Schreiben

Sprache, Struktur und Spannung

Über die Entstehung von Spannung

Als Autor und Leser ist für mich Spannung überlebenswichtig. Wir alle lesen oder sehen gerne spannende Romane oder Filme. Aber sehr häufig sind Leser:innen und Zuschauer:innen hinterher ratlos, warum sie so gefesselt waren von einer bestimmten Handlung eines Buches oder Films. Wie machte das Alfred Hitchcock? Warum packt uns Stephen King so am Kragen, zerrt uns durch die Hölle – und wir machen das auch noch gerne mit, wie zahlende Kunden in einer Geisterbahn? Hier fasse ich die mir wichtigsten Faktoren für Spannung zusammen. Ich hoffe, durch meine Analyse werden einige erfolgreiche Spannungsromane und -filme etwas transparenter.

Der Raum, die Situation und die Figuren

Der Raum

Schreiben heißt, die Umwelt – also den Handlungsraum – bewusst wahrzunehmen und zu beobachten, wie sich Menschen in bestimmten Situationen verhalten.

Da! Die Kassiererin des Supermarkts reibt sich immer dann die Narbe am unteren Kinn, wenn sie gestresst ist. Hat sie etwas Schlimmes erlebt, etwas, das sie trotz ihrer anstrengenden Arbeit psychisch verarbeiten muss? Hat ihr Mann sie geschlagen? Ist sie auf der Flucht aus dem Nahen Osten hierher sogar von Terroristen gefoltert worden?

Oder da draußen! Warum spricht der Fahrer in dem roten Wagen im Stau mit sich selbst? Ist er wütend auf die Situation oder einfach nur schizophren?

Oft sind es die alltäglichen Situationen in bestimmten Handlungsräumen – der Supermarkt, der Stau –, in denen Menschen gezwungen sind, handeln zu müssen, sich der Masse unterzuordnen oder auszubrechen. Besonders spannend sind daher Stresssituationen. Stress entsteht oft, wenn eine Person von A nach B will, aber irgendetwas sie daran hindert: ein Unfall, eine Krankheit, ein Verbrechen. Es ist faszinierend zu sehen, wie Menschen in solchen Situationen handeln. Schreit die Kassiererin gleich einen Kunden an oder bricht sie weinend zusammen? Wenn ja, was geschieht dann? Dreht der Autofahrer im Stau gleich durch und läuft Amok oder lässt er seinem Ärger erst später im Büro freien Lauf? Wenn ja, was geschieht dann? Wir sehen, dass es sich lohnt, immer die Augen offen zu halten und Menschen zu beobachten, die in ihrem Umfeld agieren. Noch spannender wird, wenn wir Menschen beobachten, die in einer fremden Umgebung handeln müssen. Aber dazu gleich mehr.


Die Situation

Niemand will etwas über Personen, bei denen alles glatt läuft. Wir wissen aus persönlicher Erfahrung, dass selbst die einfachsten Dinge schief gehen können und dadurch Konflikte entstehen. Die Betonung liegt demnach auf dem Wort „Konflikt“. Denn Schreiben bedeutet, dass wir das Verhalten einer Figur in bestimmten Handlungsräumen beschreiben und daraus ein Konflikt entstehen lassen. Als Autor:innen müssen wir den Mut aufbringen, die Hauptfigur durch die Hölle zu schicken, anstatt sie zu verschonen.

Eine Geschichte mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Ende entsteht. Der Anfang (Akt 1), ist die „Exposition“, in der die Figur einer schier unlösbaren Problemlage ausgesetzt ist. Der Mittelteil (Akt 2) ist die „Konfrontation“. Ich persönlich neige eher dazu, es als „Eskalation“ zu bezeichnen, denn die Handlung muss eskalieren, die Versuche, die Probleme zu lösen, müssen die Situation verschlimmern. Das Ende (Akt 3) ist die Resolution, die Auflösung, in der unsere Heldin oder der Held alle Konflikte bewältigt und das Ziel erreicht hat.

Niemand will eine Geschichte lesen, in der z.B. ein Schuljunge zur Schule geht und dort pünktlich ankommt. Wir wollen lesen, dass ihn ein Psychopath in sein Auto lockt, dass ihn Schulkamerad:innen fesseln und in einem verlassenen Haus einsperren, oder er auf dem Weg durch den Wald bei einem Gewitter stolpert und sich den Fuß bricht und nun sehen muss, wie er zur Schule kommt. Und er muss zur Schule kommen, denn die Klasse schreibt die letzte Klausur, die darüber entscheidet, ob unsere Figur die Versetzung schafft. Wird er nicht versetzt, wird ihn sein Vater schwer verprügeln – und seine Mutter. Und so weiter.

Im Idealfall löst ein Ausgangskonflikt eine ganze Reihe von weiteren Problemen aus, wie umfallende Dominosteine. Wenn Person A es nicht schafft, B zu verwirklichen, beginnt eine Kettenreaktion, die C und alle weiteren Ereignisse auslöst: D, E, F, usw. Ohne Konflikt keine Spannung.

Der Begriff „Konflikt“ lässt sich auch anders beschreiben: Es ist ein Ereignis, das die Figur eines Romans oder eines Films daran hindert, das Ziel zu erreichen. Der Roman oder der Film muss eine Reihe von Hindernissen enthalten. Idealerweise wird es im zweiten Akt der Handlung immer schlimmer.


Die Figuren

Eine Erzählung lebt von ihren Figuren. Wer will schon eine Erzählung oder einen Roman ohne Personen lesen? Es sind Personen, die eine Handlung vorantreiben. Lustig finde ich die Aussage mancher Autoren, dass sie ihre Romane bis ins kleinste Detail „plotten“ und planen würden. Das bedeutet nichts anderes, als den Figuren eine Handlung aufzuzwingen. Diese Figuren sind Marionetten des Autors. Vielmehr müssen die Figuren selbst handeln – und daraus ergibt sich ein organischer Handlungsprozess. Beim Schreibvorgang müssen die Figuren selbstständig handeln. Deshalb müssen wir Figuren dreidimensional gestalten. Eine Romanfigur hat, wie ein Mensch im „richtigen“ Leben:

1) eine körperliche Erscheinung (Gesichts- und Körpermerkmale, eine bestimmte Größe, Gewicht, Vorlieben für Kleidung, oder mögliche Behinderungen, etc.),

2) ein soziales Umfeld, indem die Figur aufgewachsen ist und lebt (Elternhaus, Schule, Bildung, Berufsausbildung, oder möglicherweise: Kriegsgebiet, Kinderheim, etc.)

sowie

3) eine psychologische Dimension (vergangene traumatische und schöne Erfahrungen in der Kindheit, Jugendzeit, im Erwachsenenleben).

Wie im richtigen Leben, ist eine Romanfigur die Summe ihrer Lebenserfahrungen. Der beste Weg, um diese drei Faktoren auszugestalten, besteht darin, selbst Nebenfiguren „Personalakten“ anzulegen. Hilfreich sind auch erdachte Interviews oder Biografien aus Sicht der Figuren. Die psychologische Dimension und die Erfahrungen, die eine Figur in der menschlichen Gesellschaft gemacht hat, bestimmen, wie sie in Konfliktsituationen handelt. Ich kann diesen Punkt gar nicht oft genug betonen: Auch im „echten“ Leben ist es so, dass die traumatischen wie auch schönen Erfahrungen, die einen Menschen geprägt haben, beeinflussen, wie wir handeln. Der Roman sollte im besten Fall zeigen, wie es der Hauptfigur gelingt, das Traumatische und die Hemmung im Laufe der Handlung zu überwinden, um den inneren Konflikt aufzulösen. Die Figur muss über sich hinauswachsen.

Ist eine Geschichte spannend, in dem ein Autor beschreibt, wie ein außerirdisches Raumschiff in die Erdatmosphäre eintritt? Interessant ja, aber spannend? Nur sehr kurz. Die Geschichte wird erst dann spannend, wenn wir einen Teenager zeigen, den sein Schulumfeld als Spinner wahrnimmt. Idealerweise ist er ein Außenseiter. Wir müssen eine Biografie erschaffen, die erklärt, warum er ein Außenseiter ist. Vielleicht ist seine Mutter eine Alkoholikerin, sein Vater ein religiöser Fanatiker, vielleicht ist der Junge ein Autist und spricht nicht viel. Als er berichtet, ein außerirdisches Raumschiff gesehen zu haben, glaubt ihm niemand. Der Konflikt besteht nun darin, dass er seinem Umfeld beibringen muss, dass eine außerirdische Invasion begonnen hat. Denn er hat gesehen, wie außerirdische Parasiten die Menschen infizieren und durch gefühllose Zombies ersetzen. So ähnlich ist die Handlung in dem Film „Invasion vom Mars“ (1953) sowie Jahrzehnte später in „Faculty“ (1998) von Robert Rodriguez.

Spannung ergibt sich demnach immer aus den Konflikten zwischen den handelnden Personen. Antagonist:innen versuchen, unserer Hauptfigur das Ziel streitig zu machen. Das Ziel kann vielfältig sein: Unsere Hauptfigur muss ein bestimmtes Artefakt – Alfred Hitchcock nannte es „MacGuffin“ – finden, ein Attentat auf einen Politiker oder eine bevorstehende Katastrophe verhindern. Denkbar sind viele Szenarien. Je mehr auf dem Spiel steht, umso spannender ist es. Der Antagonist kann aber auch eine Naturgewalt oder ein Tier sein, das sich der Hauptfigur entgegenstellt: ein mörderischer Tornado wie in „Twister“ (1996), oder ein weißer Hai, wie im Film „Jaws“ (1975) von Steven Spielberg.


Die Spannung

Aber wie genau erzeugen wir nun Spannung? Alfred Hitchcock und Patricia Highsmith waren bekannt für ihre Definition von „Surprise“, „Suspense“ und „Mystery“. Wenn plötzlich eine Bombe unter einem Tisch in einem Restaurant explodiert, sind wir zunächst geschockt, aber von Spannung kann keine Rede sein. Wir haben es dann hier mit „Surprise“, einem überraschenden Schockmoment zu tun.

Gemäß Hitchcock wäre es aber erst dann spannend (Englisch: „suspenseful“), wenn wir sehen, dass sich unter einem Tisch in einem Restaurant eine Bombe befindet. Hier entsteht die Spannung aus einem Wissensvorsprung gegenüber den handelnden Figuren, die anwesenden Personen die Bombe nicht bemerkt haben. Wir Zuschauer zittern mit ihnen und hoffen, dass sie die Bombe entdecken. Falls sie die Bombe entdecken, hoffen wir, dass sie aus dem Raum entkommen oder die Bombe entschärfen können, bevor sie explodiert. Wir haben dann einen Spannungsbogen. Weitere Beispiele für Spannungsbögen: Wird der Teenager Raymand Davis Gerraty den Fußmarsch von Van Buren in Maine nach Boston in Stephen Kings Roman „Todesmarsch“ gewinnen und somit nicht von den Militärs erschossen werden, wie die anderen 99 Teilnehmer des Wettlaufs? Wird es dem übernatürlich begabten Lehrer Johnny Smith in Kings „Dead Zone“ gelingen, den Kandidaten Greg Stillson davon abzuhalten, Präsident zu werden und in der Zukunft einen Atomkrieg auszulösen?

Unter „Mystery“ definierte Hitchcock Handlungselemente, die Zuschauer:innen oder Leser:innen im Unklaren lassen: Wer oder was ist Ambrose Chapel in Hitchcocks „Der Mann, der zuviel wusste“? Hat der Nachbar Lars Thorwald des an einen Rollstuhl gefesselten Fotografen L.B. Jeffries wirklich seine Frau in der Badewanne ermordet?

Hitchcock und Patricia Highsmith sahen den „Mystery“-Faktor untergeordnet. Aber „Mystery“ ist noch so viel mehr, als sie glaubten: Was verursachte den schrecklichen Nebel in Stephen Kings Horror-Novelle „The Mist“ und gibt es Überlebende oder sogar Rettung? Hat Kurt Barlow, der kürzlich ins alte Marsten-Haus auf dem Hügel eingezogen ist, irgendetwas mit dem Verschwinden des Jungen Ralphie Glick und der rätselhaften Blutarmut, an der manche Einwohner der Stadt Salem’s Lot in Stephen Kings Roman „Brennen muss Salem“ sterben, zu tun? Steuern Dämonen die Weiden auf der Donauinsel in Algernon Blackwoods Novelle, um die beiden Protagonisten zu töten? Warum drehen die Roboter in Michael Crichtons „Westworld“ durch? Wer ist die kleine Gestalt mit dem roten Regenmantel in der Verfilmung von Daphne Du Mauriers Novelle „Wenn die Gondeln Trauer tragen?“

„Mystery“-Anklänge grenzen oft an philosophische Fragenstellungen. Wir sehen, worauf der Faktor „Mystery“ hinausläuft: Unwissenheit über eine bestimmte gefährliche Situation oder bedrohliche Ereignislage. „Mystery“ bedeutet aber auch, dass etwas unsere Alltagswahrnehmung ad absurdum führt, ja, dass das Phantastische über unsere Welt hereinbricht: Der Regisseur David Lynch treibt es in seinen Filmen „Lost Highway“, „Mulholland Drive“ oder der Serie „Twin Peaks“ auf die Spitze, denn es gibt hier keine Antworten.


Handlungsdienliche Spannungsfaktoren

Der Schriftsteller Andreas Eschbach wiederum postuliert sechs Stellschrauben, damit Leser:innen seiner Ansicht nach wissen wollen, wie es in einem Text weitergeht:

  • Orientierung: Leser:innen möchten wissen, welche Figur sich am Beginn eines Textes wo und in welcher Situation befindet. Es ist verwirrend, nicht zu wissen, wo sich eine Figur geografisch oder situativ betrachtet befindet. Die Folge: Der Leser steigt aus, bevor die Handlung richtig in Fahrt kommt. Das ist aber nur bedingt korrekt. In Karl Olsbergs Jugendbuch-Thriller „Boy in a White Room“ z.B. lässt der Autor seinen Protagonisten Manuel in einem undefinierbaren weißen Raum erwachen, ohne Erinnerung, was vorher geschehen ist. Manuel weiß nicht, wo er sich befindet oder wer er ist: Er muss es erst herausfinden. Die Orientierungslosigkeit und die Identitätssuche sind hier grundlegende Handlungselemente.
  • Glaubwürdigkeit: Die Handlungen der Figuren und alle anderen Informationen einer Erzählung oder eines Romans müssen glaubwürdig und widerspruchsfrei sein. Sind sie nicht widerspruchsfrei, steigen Leser:innen aus und legen das Buch weg. An diesem Faktor ist nicht zu rütteln. Leser:innen wollen durch authentisch gestaltete Figuren in eine authentische Welt entführt werden. Je gründlicher der Autor diese Welt recherchiert hat und beschreiben kann, umso besser und glaubwürdiger ist der Lesegenuss. Auch Handlungen müssen glaubwürdig sein. Ein Beispiel: Am Beginn von „Die Tyrannei des Schmetterlings“ von Frank Schätzing sinniert der Führer eines Kampfkommandos inmitten eines Feuergefechts über Götter und das afrikanische Klima. Niemand würde in einer derartig stressigen Situation solche philosophischen Gedanken haben, sondern wäre damit beschäftigt, „den eigenen Arsch zu retten“. Sie oder er würde darüber nachdenken, wo sich der Gegner befindet, wie man einen Hinterhalt organisieren kann oder auf schnellstem Weg die Flucht ergreifen kann. Die Figur handelt nicht glaubwürdig.
  • Unvorhersehbarkeit: Wenn Leser:innen ahnen können, wie eine Geschichte weitergeht und Autor:innen zu offensichtliche Hinweise streuen, die sich hinterher sogar bestätigen, ist das langweilig und wirkt einfallslos. Leser:innen wollen überrascht werden, am besten mit glaubwürdig eingefügten, überraschenden „Twists“, die die Situation eskalieren lassen und die Figuren der Handlung in eine unerwartete Richtung steuern. Aber auch hier gibt es Ausnahmen. Verschiedene Romane oder Filme zeichnen durch einen Prolog vor, welches Ungemach geschehen wird, sodass der Leser bereits weiß, was auf sie oder ihn in der darauf folgenden Rückblenden-Handlung zukommen wird. „Mission Impossible 3“ mit Tom Cruise funktioniert so.
  • Ferner sind viele Rache-Thriller „vorhersehbar“, denn die Autor:innen wollen die Leser:innen natürlich am Ende nicht enttäuschen: die Rache muss gelingen. Hier ist der Weg das Ziel. Rache-Thriller bedürfen ganz besonders raffiniert konstruierter Hindernisse, die eine Figur überwinden muss, um das Ziel zu erreichen. Ein besonders eleganter Rache-Roman ist nach wie vor „Der Graf von Monte Christo“ von Alexandre Dumas aus den Jahren 1844 bis 1846. Auch wenn Leser:innen wissen, dass der Graf siegen wird, lesen wir selbst im 21. Jahrhundert immer noch sehr gerne diese spannende und anrührende Geschichte.
  • Vorausdeutungen: Autor:innen können Leser:innen mit Vorausdeutungen ködern. In etwa so: „Als Herr X an diesem Morgen zur Arbeit losfuhr, wusste er noch nicht, welches Ungemach ihn in der Firma erwartete“. Das funktioniert jedoch nur begrenzt und nur dann, wenn man es nicht übertreibt, denn Vorausdeutungen nutzen sich schnell ab. Außerdem sind Vorausdeutungen Spannungsversprechen der Autor:innen, die sie unbedingt einhalten müssen. Wenn Herr X zur Arbeit kommt, dann muss es dort wirklich zur Sache gehen und eskalieren. Wenn Leser:innen jedoch sehen, dass Herrn X im Büro nichts Schlimmes zustößt, dann ist das Spannungsversprechen gebrochen.
  • Stephen King verwendet gelegentlich Vorausdeutungen, wenn er in der Ich-Erzählform sowie auktorial, also der allwissenden Erzählform, schreibt. Oft enttarnt er einen personal erzählten Roman später anhand weniger Sätze als allwissende Perspektive. (Eine literarische Meisterleistung der allwissenden Ich-Erzählform, das „Suspense“ und „Mystery“ geschickt einsetzt, ist Arturo Perez-Revertes Roman „Der Club Dumas“, den Roman Polanski als „Die neun Pforten“ (1999) verfilmte.) Vorausdeutungen funktionieren nicht in der personalen Erzählform: Eine Person, die die Zukunft nicht kennt, kann keine Vorausdeutungen machen. Denn personal erzählen bedeutet, dass man sich eine Kamera auf der Schulter der Hauptfigur vorstellen muss: Wir Leser sehen nur das, was die personale Figur sieht. Mehr können wir nicht wissen.
  • Nähe: Andreas Eschbach meint hiermit die Nähe zur Hauptfigur. Wie tief kann der Autor in den Kopf der Figur eindringen und Leser:innen am Seelenleben in der Konfliktsituation teilhaben lassen?
  • Diese Nähe zu einer Figur ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Identifikation der Leser:innen mit der Figur. Die Identifikation zur Figur findet, wie oben erwähnt, über die Dreidimensionalität einer Figur statt: Erlittene Traumata, persönliche Schicksalsschläge, berufliche Rückschläge und deren Auswirkung auf die Handlungen der Hauptfigur, rufen Empathie bei Leser:innen hervor.
  • Die Nähe wiederum entsteht nach Eschbach, wenn es einem Autor gelingt, Geschehenes oder Zukünftiges im Kopf der Figur zu reflektieren. Ein Meister der persönlichen Reflektion ist der Autor Paul Auster. In seinem Essay „Die Erfindung der Einsamkeit“ beschreibt Paul Auster auf ergreifende Weise sein Verhältnis zu seinem verstorbenen Vater anhand von einzelnen Objekten, die dieser ihm hinterlassen hat. Ein Roman Austers, der die innere Reflektion auf die Spitze treibt, ist „Leviathan“.
  • Sprache: Als letzten Faktor sieht Andreas Eschbach die Sprache an, um Spannung zu erzeugen. Sprache muss seiner Ansicht nach handlungsdienlich sein und darf den Lesefluss nicht stören. Sie darf nicht blumig oder abgedreht mit zu vielen Bildern daherkommen („das Buch flatterte zu Boden wie ein aufgescheuchter Vogel“). Im Passiv geschriebene Schachtelsatzkonstruktionen über eine halbe Seite sind auch nicht spannungsfördernd. Eschbach beschreibt den Faktor Sprache mit einer Trance. Es wäre so, als ob sie in einem Kino sitzen und atemlos der Handlung folgen. Dem ist im Grunde nichts hinzuzufügen. Eine elegante, knappe Sprache frei von Blumigkeit und Melodrama und eine klar strukturierte Handlung sind unumgänglich für eine spannende Handlung.
  • Aber auch hier gibt es Ausnahmen. So funktioniert etwa die „Southern Reach“-Trilogie, in der Jeff Vandermeer eine Expedition von Wissenschaftlerinnen beschreibt, die nach dem Einschlag eines Meteoriten die mutierte fremdartige Flora und Fauna in dem Gebiet erforschen sollen, hauptsächlich durch die Sprache. Gerade durch die phantastisch anmutende Sprache entsteht der Eindruck der Wirklichkeit und Leser:innen erleben nie erlebte Momente der Authentizität in einer fremdartigen Umgebung.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Auch wenn die sechs Stellschrauben wichtige Faktoren sind, bestätigt die Ausnahme die Regel. „High Concept“-Romane atmen diese sechs Stellschrauben. Solche Romane und Thriller legen mehr Wert auf den Plot als auf die Entwicklung der Figuren. Autor:innen können „High Concept“-Romane in einem Satz zusammenfassen: „Was wäre, wenn man Dinosaurier klonen könnte?“ Und nichts spricht dagegen: „Jurassic Park“ von Michael Crichton ist ein sehr spannender Roman, auch ohne dass Crichton das Innenleben der Figuren beleuchtet hätte. „Jurassic Park“ war extrem erfolgreich – sowohl als Roman als auch als Film von Steven Spielberg.

Aber: Michael Crichtons Figuren hätten noch glaubwürdiger sein können, indem er sich um ihre Entwicklung bemüht hätte. Es reicht nicht, dass Dr. Grant vom Kinderhasser zum Kinderfreund wird. Spannung ist mithin viel mehr als das. Denn zur Glaubwürdigkeit gehört auch, das Seelenleben einer Figur in Not- oder Stresssituationen zu beschreiben und zu zeigen, wie sich die Vergangenheit auf die Handlung der Figur auswirkt.


Übergeordnete Spannungsfaktoren

Es sind daher noch weitere Faktoren von großer Wichtigkeit, um Spannung zu erzeugen:

  • Die empathische Ebene: Wenn Figuren nur eindimensionale Pappkameraden sind, dann identifizieren sich Leser:innen nicht mit ihnen. Die Identifikation mit der Hauptfigur geschieht, wie oben kurz erwähnt, über die emphatische Ebene. Wer hat nicht Mitleid mit der Highschool-Schülerin Carrie in Stephen Kings gleichnamigem Roman, die in der Schule gemobbt wird, weil sie eine religiös-fanatische Mutter hat? Viele von uns sind gemobbt worden. So entsteht in uns eine große Projektions- und Empathie-Fläche. Die Identifikation fällt hier leicht, obwohl Carrie später – Achtung, Spoiler – mit ihren telekinetischen Fähigkeiten aus Rache für die zugefügte Schmach auf dem Abschlussball die gesamte Stadt niederbrennt.
  • Das Ziel und die Sehnsucht: Spannung entsteht, wenn Leser:innen das „Want“ und das „Need“ der Hauptfigur früh erkennen. Die Hauptfigur möchte ihr Ziel erreichen: den Schatz finden, das Attentat verhindern, ihre Unschuld beweisen und so weiter. Sie möchte aber noch viel mehr. Ihr „Need“ muss befriedigt werden, nämlich die übergeordneten Sehnsüchte und Bedürfnisse. Der Protagonist Richard Kimble versucht in „Auf der Flucht“ den wahren Mörder zu finden (want). Das allein reicht aber nicht. Leser:innen möchten ihn von jeglicher Schuld rehabilitiert sehen (need). Sie wollen, dass Autor:innen den Vertrauensvorschuss in die Figur belohnen. Leser:innen sehnen sich danach, dass die dreidimensionale Figur eine Entwicklung – eine läuternde Heldenreise – durchmacht. Daher funktionieren Filme wie „Number 23“ (2007) mit Jim Carey, in der ein Familienvater am Ende eingesteht, doch ein Mörder zu sein, nicht wirklich. Die Identifikation der Zuschauer kollabiert und das Publikum fühlt sich am Ende des Films betrogen.
  • Die Mikrospannung: Der Autor André Hille zeigt, dass es sinnvoll ist, ein kontrastiv eingesetztes Setting für bestimmte Eröffnungsszenen zu verwenden, um Spannung zu erzeugen: Viel zu oft wachen Protagonist:innen am Beginn eines Romans oder Films morgens im Bett auf. Das Setting ist bestätigend, also affirmativ. Warum wacht sie oder er nicht plötzlich im Wald oder im Keller auf (also konstrativ)? Wäre es nicht viel spannender, wenn unweigerlich Fragen auftauchen, warum die Figur im Wald aufwacht? Dabei ist der Wald hier nur ein Platzhalter. Der Film „Donnie Darko“ (2001) mit Jake Gyllenhal zeigt das wunderbar. Der Teenager Donnie wacht eines Morgens auf einer kurvenreichen Straße in den kalifornischen Bergen auf. Warum? Was ist mit ihm geschehen?
  • Die Reduktion des Personals: Selbst bekannten und sogar weltberühmten Autoren entgleitet der eine oder andere Roman und ist deswegen wenig spannend, oder sogar langweilig. Personal sollte entfallen, wenn es keine tragende Rolle spielt. Je mehr Personen in einem Roman vorkommen, umso unüberschaubarer ist die Handlung. Niemand kann sich die Namen und Eigenschaften von dutzenden Charakteren merken. Wir sollten bei unserem Protagonisten bleiben und das Personal auf das Nötigste reduzieren. Denn ein überbordendes Personal lenkt vom eigentlichen Ziel einer Hauptfigur ab. Ein breit gefächertes Personal in einem Roman lässt nur schablonenhafte Charakterisierungen zu. Es lohnt sich also, in die Tiefe und nicht in die personelle Breite zu gehen.
  • Die Reduktion von Handlungssträngen: Im Thriller-Genre ist es „hipp“, mehrere parallele Handlungsstränge gleichzeitig ein- und fortzuführen, meistens, um die antagonistische Seite zu zeigen und dadurch zwanghaft Spannung zu erzeugen. Bestes Beispiel ist „Sakrileg“ von Dan Brown. Die Kalkulation: Wer zittert nicht um die Hauptfigur, wenn man mehr weiß als sie und erfährt, dass sie durch den Antagonisten in Gefahr geraten wird? Bei „Sakrileg“ funktioniert es zweckdienlich. Die Figuren, einschließlich die des Helden Robert Langdon, sind jedoch allenfalls skizzenhaft. Selbst nach dem vierten Robert-Langdon-Roman wissen wir nicht viel über sein Leben und seine Leiden: Wenn ein Roman aus zu vielen Handlungssträngen besteht, leidet darunter die Identifikation zur Hauptfigur. Denn es entsteht der Eindruck, dass mehrere Hauptfiguren im Roman den Ton angeben. Maximal sollten zwei Handlungsstränge ausreichen: einen für die Hauptfigur und einen für die antagonistische Kraft.
  • Die Bestätigungs-Spannung: Damit meine ich, dass Autor:innen mit den Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen von Leser:innen spielen und sie bestätigen: Leser:innen wollen ihre Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen im Sinne der psychologischen „Confirmation Bias“ bestätigt sehen, vor allem bei Liebesromanen. Aber auch in anderen Genres: So spielt etwa William Peter Blattys Roman „Der Exorzist“ lange Zeit mit der Erwartung der Leser:innen, dass Megans Anfälle psychischer Natur sind und der Dämon nur eingebildet ist. Leser:innen ahnen jedoch durch ihr Vorwissen und den Prolog im Irak, dass tatsächlich der Dämon Pazuzu in Megan sein Unwesen treibt. Sie wollen sich bestätigt fühlen und belohnt werden, denn sie wollen sich gruseln. Im Idealfall bleibt ein Roman am Ende ambivalent und beantwortet nicht jede Frage, sodass Leser:innen den Anreiz verspüren, einen Roman noch einmal zu lesen. Auch Ambivalenz, die bis zum Punkt der Bestätigung besteht, erzeugt Spannung. Geschlossene Dramaturgien (Thriller oder Krimis) bieten derlei Vorzüge aber leider nur selten. Je offener ein Thriller in seiner Dramaturgie ist, umso unvorhersehbarer, spannender und literarisch wertvoller ist er.
  • Ein anderes Beispiel ist etwa der Film „23 – Nichts ist wie es scheint“ (1999) von Hans-Christian Schmid mit August Diehl als Hacker Karl Koch, der für den sowjetischen KGB westliche Computersysteme ausspioniert. Koch fühlt sich vom Geheimbund der Illuminaten verfolgt. Die Zuschauer:innen fragen sich, ob sein Verfolgungswahn berechtigt ist. Am Ende des Films erfahren wir, dass ein Bauer Karl Koch tot in einem Wald fand. Er hatte sich angeblich selbst verbrannt, obwohl die unmittelbare Umgebung unversehrt war. Die Spannung bleibt hier, denn es ist bis heute unklar, ob Koch wirklich Selbstmord beging und ob er nur paranoid war.
  • Die thematische Spannung: Ein Text kann allein durch sein Thema faszinieren und Spannung erzeugen. So ist etwa die Ausgangslage in Andy Weirs Science-Fiction-Roman „Der Marsianer“ schockierend desolat: Die Crew einer Marsmission vergisst den Astronauten Mark Whatney auf dem roten Planeten, als sie durch einen Sandsturm gezwungen ist, überstürzt mit ihrem Raumschiff zur Erde aufzubrechen. Das Thema: Überleben in fremdartiger Umgebung. Die Spannungsfrage: Schafft es Whatney, lange genug zu überleben, sodass ihn rechtzeitig eine Mission der Weltraumbehörde retten kann? Die spannendsten Romane sind meistens jene mit existenziellen Themen: Überleben, Schatzsuche, Liebe, Hass, Krieg, Gehorsam, Unglaube. Autor:innen sollten ihr Thema während des Schreibens nie aus den Augen verlieren. Das Thema bildet den roten Faden der Handlung und sollte, wenn möglich, sich nicht mit anderen Themen vermischen.
  • Die atmosphärische Spannung: In dem Roman „Der Name der Rose“ von Umberto Eco müssen der Franziskanermönch William von Baskerville und sein Novize Adson von Melk grauenvolle Morde an Mönchen in einer nicht näher genannten italienischen Abtei aufklären. Eco, als Professor für Semiotik ein Experte auf dem Gebiet der Zeichen und Symbole, spielte in seinem Roman mit der Intertextualität, mit verdeckten Bezügen des Mittelalters mit der heutigen Zeit und sprachlichen Anspielungen. Es tut der Spannung des Romans keinen Abbruch, wenn er etwa mehrere Male über eine Seite hinweg lateinische Gebete oder Traktate zitiert. Im Gegenteil sorgt die sperrige, altertümlich anmutende Sprache für ein Gefühl der Authentizität des Romans, sodass sich Leser:innen in das Zeitalter des 14. Jahrhunderts versetzt fühlen. Doch die Spannung in „Der Name der Rose“ erzeugt sich selbst aus dem geheimnisumwitterten Setting der alten Abtei und dem Reiz des Verbotenen. Die „Mystery“-Frage, wer die Morde verübt – das klassische „Whodunnit?“ – ist nur das Transportmittel für einen Roman, der philosophisch und kulturhistorisch seinesgleichen sucht und sich zu Recht weltweit über 50 Millionen Mal verkaufte.
  • Der Schriftsteller H.P. Lovecraft vermochte es ebenso, in seinen Kurzgeschichten und Novellen Spannung durch unheilvolle Andeutungen und atmosphärische Beschreibungen zu erzeugen. Tatsächlich macht die Atmosphäre in Lovecrafts Erzählungen etwa 90% der Spannung aus, denn die handelnden Figuren sind meistens vom Wahnsinn bedrohte, sprachlose (männliche) Scherenschnitte, um die sich die Leser:innen eigentlich wenig kümmern. Es ist vielmehr dieses Szenario des so gut wie unabwendbaren Grauens, das die Leser:innen in den Bann zieht.
  • Aber auch geografisch fremdartige Landschaften bieten atmosphärische Spannung: Die Wissenschaftler in „Who goes there?“ von John W. Campbell sind durch einen Schneesturm in einer Antarktisstation eingeschlossen – zusammen mit einem außerirdischen Monster, das einen nach dem anderen parasitär befällt. Die Verfilmung von John Carpenter aus dem Jahr 1982 setzte Maßstäbe im Horrorgenre.
  • Die Vorenthaltung des Offensichtlichen: In der Novelle „Die Vögel“ (1952) beschreibt die englische Autorin Daphne du Maurier, wie Vögel eines Tages Menschen angreifen und töten. Der Bauer Nat Hocken sieht sich gezwungen, die Familie in seinem englischen Farmhaus zu verbarrikadieren, bevor die Angriffe apokalyptische Ausmaße annehmen. Du Maurier lässt ihren Protagonisten Nat darüber nachdenken, warum die Vögel die Menschen angreifen: Er vermutet, dass die Vögel wahrscheinlich durch die Giftgaswaffen aus dem Weltkrieg Nervenschäden davontrugen und deswegen aggressiv wurden.
  • In der gleichnamigen Verfilmung von Alfred Hitchock mit Tippi Hedren und Rod Taylor (1963) erfahren wir jedoch nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil spielt Hitchcock in seiner Umsetzung des Drehbuchs von Evan Hunter nach der Novelle von Daphne du Maurier gekonnt mit der Ambivalenz und Vorenthaltung des Offensichtlichen. Hitchcock suggeriert durch die Aussagen von verzweifelten Anwohnern der Küstenstadt Bodega Bay, dass die High-Society-Dame Melanie Daniels, die den Anwalt Mitch Brenner dort besucht und ihm Zwergpapageien für seine kleine Schwester mitbringt, die Ursache für die Vogelangriffe sei. Hitchcock erzeugt mit seiner Bildsprache ein offen angelegtes „Surprise“-, „Suspense“- und „Mystery“-Kunstwerk, das dadurch noch spannender als Daphne du Mauriers Novelle ist. Die Spannung funktioniert im Film auf drei Ebenen:
  • Ist Melanie Daniels so etwas wie eine Unglücksbotin – oder ist dies nur einer „Confirmation Bias“ des Zuschauers anzulasten?
  • Sterben Melanie Daniels, Mitch Brenner und seine Familie durch die Vogelangriffe?
  • Warum handeln die Vögel so?

Ein Paradebeispiel für die Zurückhaltung des Offensichtlichen ist auch der Film „Alien“ von Ridley Scott. Erst sehr spät sehen wir das außerirdische Monster in seiner ganzen Pracht. Scott deutet es vorher nur an. Hätte Scott das Alien früher gezeigt, wäre der „Suspense“-Faktor um ein Vielfaches geringer ausgefallen. Ähnlich verhält es sich bei Stephen Kings Meisterwerk „Brennen muss Salem“. Erst sehr spät erfahren wir, dass der bereits erwähnte Kurt Barlow ein Vampir ist, der für das Ungemach in Jerusalem‘s Lot verantwortlich ist.

Fortsetzung folgt…

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